In unserer modernen Gesellschaft, die auf Leistung, Perfektion und Erfolg ausgerichtet ist, fällt es vielen Menschen schwer, sich selbst mit derselben Liebe und Fürsorge zu begegnen, die sie ihren engsten Freund*innen entgegenbringen. Meine Kollegin Judith Oesterle hat in ihrer Blogparade „Wie kann ich mir selbst eine gute Freundin oder ein guter Freund sein?“ ein Thema aufgegriffen, das uns alle betrifft. Denn in einer Welt, die uns oft dazu zwingt, hart zu uns selbst zu sein, verlieren wir leicht den Zugang zu einer liebevollen und mitfühlenden Beziehung zu uns selbst. Ich möchte in diesem Artikel anhand einer Geschichte aus meiner Praxis aufzeigen, wie tief verwurzelt dieser innere Kritiker ist – und wie der Weg zu einer freundschaftlichen Beziehung zu sich selbst aussehen kann.
Die Inhalte dieses Blogartikels:
ToggleAngelikas Geschichte: Die Begegnung mit der eigenen Härte
Meine Klientin Angelika, 54 Jahre alt, kam eines Tages merklich verspätet und sichtlich aufgelöst zu unserer Sitzung. Ihre Wangen waren gerötet, und sie fand kaum Zeit für die Begrüßung, bevor sie mir atemlos erzählte, was geschehen war: „Ich blöde Kuh habe mich ausgesperrt,“ platzte es aus ihr heraus. „Ich wollte nur schnell den Müll rausbringen, aber die Tür schlug zu. Niemand war zu Hause, und ich war ohnehin schon spät dran.“
Ihre Worte sprudelten heraus, begleitet von einer Mischung aus Frust und Selbstvorwürfen. Sie erzählte weiter, wie die Panik in ihr aufstieg, wie ihr Herz raste und die Gedanken sich überschlugen. Doch dann fiel ihr plötzlich die somatische Orientierungsübung ein, die wir gemeinsam in den letzten Sitzungen erarbeitet hatten.
„Benennen Sie fünf Dinge, die Sie sehen können,“ hatte ich sie angeleitet, als sie während einer unserer Sitzungen Panik aufkommen spürte. „Dann vier Dinge, die Sie spüren können, drei Dinge, die Sie hören können, zwei Dinge, die Sie riechen können und eines, das Sie schmecken können.“ Diese einfache, aber wirkungsvolle Technik half ihr, den Moment zu verlangsamen, ihre Atmung zu beruhigen und die Situation klarer zu sehen.
Durch diese Übung gelang es Angelika, sich aus der Spirale der Angst zu befreien. Sie erinnerte sich daran, dass sie einen Ersatzschlüssel bei der Nachbarin deponiert hatte. Trotz ihrer Scham ging sie hinüber, holte den Schlüssel und konnte schließlich ihren Autoschlüssel holen und zur Sitzung fahren. Doch selbst nachdem sie die Situation erfolgreich gemeistert hatte, war Angelika nicht in der Lage, diesen Erfolg anzuerkennen. Sie machte sich weiterhin Vorwürfe: „Ich bin einfach zu fahrig und ungeschickt.“
Die Konfrontation mit dem eigenen Selbstbild
Nachdem sie ihre Geschichte mit einem resignierten Seufzer beendet hatte, fragte ich Angelika sanft: „Angelika, wenn Ihnen eine Freundin das gleiche erzählt hätte, was Sie mir gerade berichtet haben, was würden Sie ihr sagen?“ Diese Frage brachte sie aus dem Konzept. Ihre Augen weiteten sich, und nach einem kurzen Zögern entgegnete sie: „Das ist doch etwas ganz anderes. Wenn das einer Freundin passiert wäre, würde ich sie trösten und ihr sagen, dass so etwas jedem mal passieren kann.“
Ich ließ ihre Antwort einen Moment in der Luft stehen, bevor ich nachfragte: „Und warum sind Sie nicht genauso nachsichtig mit sich selbst?“ Angelika starrte auf ihre Hände und nach einer Weile flüsterte sie: „Weil es bei mir nicht dasselbe ist. Mir passieren solche Dinge ständig, weil ich einfach unfähig bin. Ich kann mich nicht konzentrieren und mache immer Fehler.“
Diese Antwort zeigt, wie tief verwurzelt Angelikas negative Selbstwahrnehmung war. Für sie waren ihre Fehler nicht einfach Missgeschicke, sondern Beweise für ihre eigene Unzulänglichkeit. Ihre Härte gegen sich selbst war keine Ausnahme, sondern eine alltägliche Realität. Als ich sie dann vorsichtig fragte, ob sie sich vorstellen könnte, sich mit sich selbst anzufreunden, lachte sie bitter: „Wie kann ich denn mit jemandem wie mir befreundet sein wollen? Mir würde es schon reichen, wenn ich es irgendwie schaffe, mit mir selbst klarzukommen.“
Warum fällt es uns so schwer, uns selbst eine gute Freundin oder ein guter Freund zu sein?
Angelikas Geschichte ist kein Einzelfall. Viele von uns sind vertraut mit der inneren Härte, die uns zu schaffen macht, besonders in Momenten, in denen wir uns verletzlich oder unzulänglich fühlen. Doch warum fällt es uns so schwer, uns selbst mit der gleichen Liebe und Nachsicht zu begegnen, die wir für unsere besten Freunde empfinden?
Selbstkritik: Ein evolutionäres Erbe
Um zu verstehen, warum wir uns selbst oft so hart verurteilen, lohnt es sich, einen Blick auf die evolutionären Ursprünge dieses Mechanismus zu werfen. In der Frühzeit der Menschheit, als unsere Vorfahren in kleinen Gemeinschaften lebten, war es überlebenswichtig, sich an soziale Normen anzupassen und Fehler zu vermeiden. Ein Fehler konnte nicht nur persönliche Konsequenzen haben, sondern das Überleben der gesamten Gruppe gefährden. Ein Fehltritt im Umgang mit gefährlichen Tieren oder in sozialen Interaktionen konnte dramatische Folgen haben.
In dieser Umgebung entwickelte sich die Fähigkeit zur Selbstkritik als ein Schutzmechanismus. Unser Gehirn lernte, uns auf mögliche Fehler aufmerksam zu machen, bevor sie geschehen konnten, um uns zu motivieren, unser Verhalten zu korrigieren und anzupassen. Diese ständige innere Überprüfung half uns, Gefahren zu erkennen und Risiken zu minimieren. Der innere Kritiker war also ursprünglich eine Art Frühwarnsystem, das uns half, unsere Überlebenschancen zu erhöhen, indem es uns dazu brachte, vorsichtig und wachsam zu sein.
Selbstkritik in der modernen Welt
Doch die Welt, in der wir heute leben, unterscheidet sich grundlegend von derjenigen, in der sich dieser Mechanismus entwickelte. Die unmittelbaren physischen Bedrohungen, die das Überleben gefährdeten, sind in den meisten modernen Gesellschaften weitgehend verschwunden. Stattdessen sind die Gefahren heute oft sozialer und emotionaler Natur: die Angst vor Ablehnung, vor Versagen oder vor dem Nicht-Erfüllen gesellschaftlicher Erwartungen.
Der innere Kritiker hat sich jedoch nicht an diese veränderten Bedingungen angepasst. Er reagiert auf diese modernen Gefahren mit derselben Intensität, als wären sie lebensbedrohlich. Die Folge ist, dass wir uns selbst oft unbarmherzig und überkritisch begegnen, auch wenn die tatsächlichen Konsequenzen unserer Fehler weit weniger dramatisch sind. Ein kleiner Fehltritt im Beruf, eine unbedachte Bemerkung oder eine vergessene Aufgabe können unseren inneren Kritiker auf den Plan rufen, der uns sofort anklagt und unsere Fehler als Beweise für unsere Unzulänglichkeit interpretiert.
Gesellschaftliche Prägung und Perfektionismus
Die evolutionären Wurzeln der Selbstkritik werden durch gesellschaftliche Normen und Erwartungen weiter verstärkt. In vielen modernen Gesellschaften herrscht eine Kultur des Perfektionismus und der Leistung. Von klein auf lernen wir, dass Fehler vermieden werden müssen und dass unser Wert oft an äußeren Erfolgen gemessen wird. Diese Überzeugungen sind tief in uns verankert und prägen unseren Selbstwert.
Schule, Beruf, Medien und soziale Netzwerke verstärken diese Haltung. Wir werden ständig mit Bildern von Erfolg, Perfektion und Glück konfrontiert, die oft unerreichbar sind. Diese idealisierten Darstellungen setzen uns unter Druck und führen dazu, dass wir unsere eigenen Leistungen ständig mit diesen überhöhten Standards vergleichen. Wenn wir diese Ideale nicht erreichen, neigen wir dazu, uns selbst die Schuld zu geben. Wir fangen an, uns in den Augen des inneren Kritikers als mangelhaft und unzureichend zu sehen.
In der Praxis zeigt sich das häufig in einem ständigen inneren Dialog, der von Selbstvorwürfen und harschen Urteilen geprägt ist. Wir werfen uns vor, nicht gut genug, nicht stark genug oder nicht erfolgreich genug zu sein. Dieser innere Kritiker kann so laut werden, dass er unser Selbstbewusstsein untergräbt und uns davon abhält, Risiken einzugehen oder neue Dinge auszuprobieren. Statt uns zu motivieren, lähmt er uns und führt zu einem Gefühl der ständigen Unzulänglichkeit.
Die Rolle von Scham und Angst
Scham und Angst sind zwei starke Emotionen, die eng mit der Selbstkritik verbunden sind. Scham ist das Gefühl, dass wir als Person grundlegend fehlerhaft oder unwürdig sind, während Angst uns davor warnt, dass wir aufgrund dieser Unzulänglichkeiten von anderen abgelehnt oder verurteilt werden könnten. Beide Emotionen treiben den inneren Kritiker an und verstärken seine Macht über uns.
Wenn wir einen Fehler machen oder glauben, dass wir versagt haben, schämen wir uns oft und fürchten die Reaktionen anderer. Diese Angst vor der Ablehnung führt dazu, dass wir uns selbst noch mehr unter Druck setzen, um Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Der innere Kritiker nutzt diese Ängste, um uns zu motivieren, besser zu werden. Aber er tut dies auf eine Art und Weise, die uns schadet, statt uns zu helfen.
Statt konstruktive Selbstreflexion zu fördern, führt dieser Mechanismus oft zu einer Abwärtsspirale aus Selbstkritik, Scham und Angst. Wir werden immer strenger mit uns selbst, in der Hoffnung, zukünftige Fehler zu vermeiden, doch je strenger wir sind, desto weniger Mitgefühl haben wir für uns selbst. Diese fehlende Freundlichkeit mit uns selbst macht es uns schwer, aus unseren Fehlern zu lernen und uns weiterzuentwickeln
Angelika hat, wie viele von uns, verinnerlicht, dass sie nur dann liebenswert ist, wenn sie fehlerfrei funktioniert. Jeder kleine Fehler wird zu einem weiteren Beweis für ihre vermeintliche Unzulänglichkeit. Doch diese Perspektive verkennt eine grundlegende Wahrheit: Jeder Mensch ist unvollkommen, und diese Unvollkommenheit macht uns menschlich. Wahre Freundschaft – auch die mit uns selbst – bedeutet, diese Unvollkommenheit anzunehmen und uns nicht ständig zu verurteilen.
Schritte zur Selbstfreundschaft: Wie kann ich mir selbst eine gute Freundin oder ein guter Freund sein?
Selbstkritik überwinden durch den Mut, sich selbst anzunehmen
Der erste Schritt zur Selbstfreundschaft ist die Selbstakzeptanz. Das bedeutet, sich selbst mit all seinen Stärken und Schwächen anzunehmen, ohne sich ständig an einem unerreichbaren Ideal zu messen. Selbstakzeptanz ist nicht mit Selbstzufriedenheit zu verwechseln. Es geht nicht darum, sich mit seinen Schwächen abzufinden, sondern darum, sich selbst so zu sehen, wie man wirklich ist, und sich dabei mit Mitgefühl zu begegnen.
Für Angelika war es eine große Herausforderung, sich selbst anzunehmen. Ihre konditionierten Muster der Selbstkritik machten es ihr schwer, ihre Stärken zu erkennen. In unseren Sitzungen arbeiteten wir daran, ihre Wahrnehmung zu verändern und den Fokus von ihren Fehlern auf ihre Fähigkeiten und Erfolge zu lenken. Dies war ein langsamer, aber notwendiger Prozess, um den Weg zur Selbstfreundschaft zu ebnen.
Selbstkritik überwinden durch Selbstmitgefühl
Selbstmitgefühl ist der Schlüssel zur Selbstfreundschaft. Es bedeutet, sich in schwierigen Momenten mit derselben Fürsorge zu begegnen, die man auch einer guten Freundin schenken würde. Kristin Neff beschreibt Selbstmitgefühl als die Fähigkeit, sich selbst in Momenten des Scheiterns oder der Herausforderung mit Freundlichkeit, Fürsorge und Verständnis zu begegnen statt sich zu verurteilen.
Für Angelika bedeutete dies, ihre inneren Selbstgespräche bewusst zu verändern. Statt sich bei jedem Fehler zu kritisieren, lernte sie, sich zu fragen: „Was würde ich meiner besten Freundin sagen, wenn sie in dieser Situation wäre?“ Diese einfache Frage half ihr, den negativen Kreislauf der Selbstkritik zu durchbrechen und einen neuen, mitfühlenden inneren Dialog zu entwickeln.
Selbstkritik überwinden durch Selbstfürsorge
Selbstfürsorge ist ein zentraler Bestandteil für eine gute, freundschaftliche Beziehung zu sich selbst. Es geht darum, sich selbst die Zeit und den Raum zu geben, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen. In unserer hektischen Welt vergessen wir oft, uns selbst Priorität einzuräumen. Doch um eine gesunde Beziehung zu uns selbst aufzubauen, müssen wir lernen, auf uns selbst zu achten – sowohl körperlich als auch emotional.
Angelika erkannte, dass sie oft ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigte, ja, sie nicht einmal bewusst wahrnahm. Wir arbeiteten daran, kleine, aber effektive Selbstfürsorge-Rituale in ihren Alltag zu integrieren. Diese Rituale halfen ihr, besser mit Stress umzugehen und sich selbst mehr Wertschätzung entgegenzubringen.
Selbstfürsorge bleibt bei dir immer wieder auf der Strecke, obwohl du weißt, wie wichtig sie ist? Hier sind 7 Fragen, die du dir stellen kannst, warum das so ist.
In gutem Kontakt mit sich selbst sein: Die Grundlage für erfüllte Beziehungen
Eine gesunde Beziehung zu sich selbst ist die Grundlage für erfüllte Beziehungen mit anderen Menschen. Wenn wir uns selbst mit Liebe und Respekt begegnen, können wir auch authentischer und liebevoller mit anderen umgehen. Oft spiegeln unsere Ängste und Unsicherheiten in zwischenmenschlichen Beziehungen unsere eigene Unsicherheit wider. Wenn wir uns selbst nicht akzeptieren und lieben, fällt es uns schwer zu glauben, dass andere dies tun könnten.
Angelika bemerkte, dass sie oft die Reaktionen anderer Menschen fehlinterpretierte, weil sie sich selbst gegenüber so kritisch war. Durch die Arbeit an ihrer Beziehung zu sich selbst konnte sie beginnen, diese Unsicherheiten abzubauen und authentischere, innigere Beziehungen mit anderen zu führen.
Fazit: Die lebenslange Reise zur Selbstfreundschaft
In gutem Kontakt mit uns selbst sein ist eine lebenslange Reise, die Geduld, Übung und eine bewusste Entscheidung erfordert. Angelikas Geschichte zeigt, wie tief verwurzelt unser innerer Kritiker sein kann und wie schwer es uns manchmal fällt, uns selbst mit derselben Freundlichkeit zu begegnen, die wir für andere empfinden. Doch diese Reise ist es wert, denn eine gelungene Beziehung zu uns selbst ist der Schlüssel für ein gutes Leben. Wenn diese Beziehung misslingt, kostet das Leben Kraft. Wir verlieren Lebensfreude und Energie.
Die Blogparade von Judith Oesterle bietet uns die Gelegenheit, innezuhalten und über unsere Beziehung zu uns selbst nachzudenken. Es ist eine Einladung, sich selbst mit Liebe, Respekt und Mitgefühl zu begegnen und zu erkennen, dass wir es wert sind, uns selbst eine enge Freundin oder ein guter Freund zu sein.
Wir können viel dafür tun, uns selbst eine liebevolle Freundin oder ein unterstützender Freund zu sein. Doch manchmal kommen wir an Punkte, an denen wir alleine nicht weiterkommen. Das Leben stellt uns vor Herausforderungen, die zu groß erscheinen, um sie alleine zu bewältigen – und das ist in Ordnung. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke, sich einzugestehen, dass man Unterstützung braucht.
Wenn du das Gefühl hast, dass ich dir auf diesem Weg eine gute Begleiterin sein könnte, dann bin ich gerne für dich da. Schreibe mir gerne eine Email an pia.huebinger@beziehungsweise.cologne und vereinbare ein kostenloses Kennenlerngespräch.
Mit unerschütterlicher Zuversicht, Erfahrung und Vertrauen in deine innere Stärke unterstütze ich dich gerne, deinen inneren Kritiker zu beruhigen und eine liebevolle, beständige Freundschaft mit dir selbst aufzubauen.
Schreibe einen Kommentar