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Pia Hübinger

Praxis für kontemplative Psychologie

Köln - Bonn - Siegburg

Polyvagaltheorie einfach erklärt: So beeinflusst dein Nervensystem dein Leben und deine Beziehungen

Das Bild zeigt eine Frau, die völlig erschöpft mit dem Kopf auf ihrem Schreibtisch liegt. Der Laptop steht aufgeklappt vor ihr. Die Hände liegen auf dem Schreibtisch, die linke Hand hält noch die Kaffeetasse fest. Das Bild trägt den Titel: Polyvagaltheorie einfach erklärt.

Hast du dich jemals gefragt, warum du in manchen Momenten tief mit anderen Menschen verbunden bist – und in anderen Momenten völlig erstarrst oder innerlich flüchtest? Warum du dich in einem Gespräch sicher und offen fühlen kannst, während du in einem anderen angespannt bist, obwohl objektiv nichts Bedrohliches passiert?

Vielleicht hast du es schon erlebt: Du sitzt mit einem guten Freund oder einer guten Freundin in einem Café, das Gespräch fließt mühelos. Du lachst, dein Atem ist ruhig, dein Körper entspannt. Alles fühlt sich leicht und sicher an. Doch an einem anderen Tag kannst du in einem Raum voller Menschen stehen und dich plötzlich unwohl fühlen. Dein Herz schlägt schneller, deine Muskeln spannen sich an, und du hast das Bedürfnis, dich zurückzuziehen – ohne genau zu wissen, warum.

Und dann gibt es die Momente, in denen gar nichts mehr geht. Du sitzt auf deiner Couch, völlig erschöpft, als hätte jemand den Stecker gezogen. Deine Gedanken sind träge, dein Körper fühlt sich schwer an, und selbst einfache Dinge wie ein Telefonat oder ein kurzer Spaziergang erscheinen unmöglich.

Die Inhalte dieses Blogartikels:

Warum du dein Nervensystem verstehen solltest

Drei völlig unterschiedliche Zustände. Doch alle entstehen aus dem gleichen Mechanismus – deinem autonomen Nervensystem.

Es entscheidet in jedem Moment deines Lebens, ob du dich sicher fühlst, ob du in Stress gerätst oder ob du dich emotional zurückziehst. Und es tut das nicht bewusst, sondern automatisch. Während du denkst, dass du deine Reaktionen rational steuerst, hat dein Nervensystem längst entschieden, wie du eine Situation wahrnimmst – noch bevor du es überhaupt bemerkst.

Hier setzt die Polyvagaltheorie an.

Der Neurowissenschaftler Stephen Porges hat entdeckt, dass unser Nervensystem nicht nur zwischen Anspannung und Entspannung wechselt, sondern dass es drei grundlegende Zustände gibt, die unsere Emotionen, unser Verhalten und unsere sozialen Fähigkeiten bestimmen. Diese Erkenntnis ist entscheidend, denn sie zeigt uns, dass viele unserer Reaktionen keine Charakterschwäche sind, sondern tiefe biologische Schutzmechanismen, die unser Körper über Jahre hinweg geprägt hat.

In diesem Artikel erfährst du, wie dein Nervensystem deine Wahrnehmung formt, warum du auf bestimmte Situationen instinktiv reagierst und was diese Mechanismen mit unserer evolutionären Entwicklung zu tun haben. Vor allem aber wirst du lernen, wie du dein Nervensystem gezielt unterstützen kannst, um dich sicherer, stabiler und lebendiger zu fühlen – unabhängig davon, was um dich herum geschieht.

Die Grundlagen der Polyvagaltheorie: Was steckt dahinter?

Um zu verstehen, wie die Polyvagaltheorie unser Leben beeinflusst, müssen wir zunächst einen Blick auf ihren Ursprung werfen. Denn hinter dieser bahnbrechenden Theorie steckt eine jahrzehntelange Forschungsarbeit, die unser Verständnis des Nervensystems auf den Kopf gestellt hat.

In den 1990er Jahren stellte der amerikanische Neurowissenschaftler Stephen Porges eine Frage, die die Neurobiologie bis heute nachhaltig verändert hat. Warum reicht das klassische Modell des autonomen Nervensystems nicht aus, um unser Verhalten zu erklären?

Bis dahin glaubte man, dass das Nervensystem simpel zwischen zwei Zuständen wechselt: dem sympathischen Nervensystem, das uns in Aktivität und Kampfbereitschaft versetzt, und dem parasympathischen Nervensystem, das für Entspannung und Regeneration sorgt. Doch Porges erkannte, dass dieses binäre Modell nicht alle Reaktionen des menschlichen Körpers erklären konnte.

Er untersuchte, wie unser Nervensystem nicht nur physiologische, sondern auch emotionale und zwischenmenschliche Prozesse reguliert. Seine Forschung konzentrierte sich auf den Vagusnerv, einen der längsten und einflussreichsten Nerven unseres Körpers, und er erkannte: Dieser Nerv spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob wir uns sicher, gestresst oder völlig abgeschaltet fühlen.

Seine Entdeckung war revolutionär. Denn sie zeigte, dass unser Nervensystem nicht nur zwei, sondern drei Hauptzustände kennt – und dass diese Zustände tief mit unserer Fähigkeit zur sozialen Interaktion, zur Stressregulation und zur Bewältigung von Trauma verbunden sind.

Der Vagusnerv: Das unsichtbare Bindeglied zwischen Körper und Psyche

Der Vagusnerv ist ein wahres Wunderwerk der Evolution. Sein Name leitet sich vom lateinischen Wort vagus ab, was „umherschweifend“ bedeutet – eine treffende Beschreibung für diesen weit verzweigten Nerv, der sich von unserem Gehirn bis tief in den Körper erstreckt.

Er durchzieht unser Herz, unsere Lunge, den Magen, den Darm und viele weitere Organe. Aber er steuert nicht nur unsere physiologischen Funktionen – er beeinflusst auch unsere Gefühle, unsere Wahrnehmung und unsere sozialen Reaktionen.

Porges entdeckte, dass der Vagusnerv in zwei getrennte Äste unterteilt ist:

  • Der ventrale Vagusnerv, der mit unserem sozialen Nervensystem verbunden ist und für Sicherheit, Entspannung und Verbundenheit sorgt.
  • Der dorsale Vagusnerv, der bei Überforderung und Trauma aktiv wird und für Rückzug, Erstarrung und Abschaltung verantwortlich ist.

Diese Unterscheidung ist entscheidend. Denn sie zeigt, dass der Vagusnerv nicht nur für Entspannung zuständig ist, wie es lange angenommen wurde. Vielmehr hat er eine doppelte Funktion – er kann uns in einen Zustand der Sicherheit bringen oder uns im Extremfall in eine tiefe Schutzstarre versetzen.

Neurozeption: Wie unser Nervensystem ständig unsere Umgebung scannt

Einer der faszinierendsten Aspekte der Polyvagaltheorie ist das Konzept der Neurozeption.

Porges entdeckte, dass unser Nervensystem in jedem Moment unbewusst unsere Umgebung daraufhin scannt, ob wir sicher sind oder ob eine potenzielle Bedrohung besteht. Diese Bewertung erfolgt völlig automatisch – sie läuft in den tieferen Strukturen unseres Gehirns ab, lange bevor unser bewusster Verstand überhaupt registriert, was passiert.

Das bedeutet: Unsere Reaktionen auf Menschen, Orte und Situationen sind nicht willkürlich. Sie werden von unserem Nervensystem auf Grundlage von Erfahrungen, evolutionären Prägungen und subtilen Signalen aus unserer Umgebung gesteuert.

Stell dir vor, du betrittst einen Raum voller fremder Menschen. Noch bevor du ein Gespräch beginnst oder bewusst über die Situation nachdenkst, hat dein Nervensystem bereits entschieden, ob du dich sicher fühlst oder ob es Anzeichen für eine Bedrohung gibt. Es analysiert die Körpersprache der Menschen, den Tonfall ihrer Stimmen, die allgemeine Atmosphäre – und trifft blitzschnell eine Entscheidung.

Wenn die Neurozeption Sicherheit signalisiert, kannst du dich entspannen, sozial interagieren und in Verbindung treten. Wenn dein Nervensystem jedoch eine potenzielle Gefahr wahrnimmt, aktiviert es entweder den sympathischen Modus (Kampf oder Flucht) oder den dorsalen Vagusmodus (Erstarrung und Rückzug).

Das Problem ist, dass unser Nervensystem manchmal falsche Alarme auslöst. Menschen, die in ihrer Vergangenheit Unsicherheit, Ablehnung oder Trauma erlebt haben, haben oft eine überempfindliche Neurozeption. Ihr Nervensystem ist darauf programmiert, Gefahren zu erwarten – selbst in Situationen, die objektiv sicher sind.

Das kann erklären, warum einige Menschen Schwierigkeiten haben, Nähe zuzulassen, warum sie sich in sozialen Situationen unwohl fühlen oder warum sie scheinbar grundlos in Stress oder Rückzug geraten. Es ist nicht ihr bewusster Verstand, der entscheidet – es ist ihr Nervensystem, das sie schützen will.

Warum das Verständnis der Polyvagaltheorie so wichtig ist

Die Erkenntnisse von Porges haben weitreichende Auswirkungen – nicht nur für die Neurowissenschaft, sondern für unser tägliches Leben.

Sie zeigen, dass unser Erleben nicht einfach eine bewusste Entscheidung ist, sondern tief in unseren biologischen Prozessen verwurzelt ist. Wer sich immer wieder in Angst, Stress oder sozialer Isolation wiederfindet, ist nicht „zu sensibel“ oder „einfach so“, sondern erlebt eine natürliche Schutzreaktion seines Nervensystems.

Diese Erkenntnis kann tiefes Mitgefühl für uns selbst und für andere schaffen. Sie hilft uns, unser eigenes Verhalten besser zu verstehen – und auch das Verhalten anderer Menschen nicht vorschnell zu beurteilen.

Statt zu denken: Warum ist diese Person so verschlossen? können wir erkennen, dass sie vielleicht unbewusst in einem Zustand von Unsicherheit oder Schutzstarre gefangen ist. Statt uns selbst für unsere Ängste oder Stressreaktionen zu verurteilen, können wir begreifen, dass unser Nervensystem einfach versucht, uns zu schützen – basierend auf seiner unbewussten Wahrnehmung der Welt.

Aber das Wichtigste: Die Polyvagaltheorie gibt uns nicht nur ein Verständnis für unser Nervensystem, sondern auch Werkzeuge, um es aktiv zu beeinflussen. Denn unser Nervensystem ist formbar – es kann lernen, sich sicherer zu fühlen, neue Muster zu entwickeln und alte Schutzmechanismen langsam zu lösen.

Im nächsten Kapitel tauchen wir tiefer ein und schauen uns die drei zentralen Zustände des Nervensystems an – und wie sie unser Verhalten, unsere Emotionen und unsere Beziehungen prägen.

Die drei Zustände des autonomen Nervensystems nach der Polyvagaltheorie

Unser autonomes Nervensystem entscheidet in jeder Sekunde unseres Lebens, wie wir uns fühlen, wie wir auf unsere Umwelt reagieren und welche physiologischen Prozesse in unserem Körper ablaufen. Es beeinflusst, ob wir in sozialen Interaktionen offen und präsent sind, ob wir in Stress geraten oder ob wir uns innerlich zurückziehen und emotional abschalten.

Porges hat mit der Polyvagaltheorie gezeigt, dass unser Nervensystem nicht nur zwischen Aktivierung und Entspannung wechselt, sondern dass es drei grundlegende Zustände gibt, die unser Verhalten und unser Erleben steuern. Diese drei Zustände sind evolutionär entstanden und dienen dazu, unser Überleben zu sichern.

Doch in unserer modernen Welt – die nicht mehr von Raubtieren oder plötzlichen Überlebensgefahren geprägt ist, sondern von sozialen Dynamiken, Stress und emotionalen Herausforderungen – arbeitet dieses System manchmal gegen uns. Es kann uns in chronischen Stress versetzen, uns in sozialen Situationen blockieren oder uns in einem Zustand der emotionalen Taubheit gefangen halten.

Um wirklich zu verstehen, warum wir auf bestimmte Situationen so reagieren, wie wir es tun, müssen wir uns diese drei Zustände genauer ansehen.

Der ventral-vagale Zustand: Sicherheit und soziale Verbundenheit

Wenn sich unser Nervensystem in diesem Zustand befindet, fühlen wir uns sicher, entspannt und verbunden mit unserer Umwelt. Unsere Atmung ist tief und ruhig, unser Herz schlägt gleichmäßig, unsere Verdauung funktioniert optimal. Unser Gesicht ist ausdrucksstark, unsere Stimme hat eine warme Klangfarbe, unsere Bewegungen sind fließend.

Dieser Zustand wird durch den ventralen Vagusnerv reguliert – einen evolutionär neuen Teil des parasympathischen Nervensystems, der eng mit unserer Fähigkeit zur sozialen Interaktion verknüpft ist.

In diesem Zustand erleben wir die Welt als einen freundlichen Ort. Wir sind offen für Gespräche, können Augenkontakt halten, fühlen uns mit anderen Menschen verbunden. Unsere kognitiven Fähigkeiten funktionieren optimal – wir können logisch denken, Probleme lösen, kreativ sein. Auch unser Immunsystem ist in diesem Zustand besonders aktiv, sodass unser Körper sich gut regenerieren kann.

Wir erleben diesen Zustand in Momenten der Geborgenheit – wenn wir mit einem geliebten Menschen lachen, wenn wir eine Umarmung genießen, wenn wir in einer Gruppe willkommen geheißen werden. Dieser Zustand ist die Grundlage für psychische Gesundheit und Heilung.

Doch nicht jeder Mensch kann ihn leicht erreichen. Wer in seiner Kindheit oft Unsicherheit erlebt hat, dessen Nervensystem ist möglicherweise weniger vertraut mit diesem Zustand. Stattdessen kann es leichter in Stress oder Rückzug wechseln – weil es gelernt hat, dass die Welt nicht zuverlässig sicher ist.

Der sympathische Zustand: Kampf oder Flucht

Wenn unser Nervensystem eine Bedrohung wahrnimmt, aktiviert sich der sympathische Modus. Unser Körper bereitet sich darauf vor, zu kämpfen oder zu fliehen.

In diesem Zustand schlägt unser Herz schneller, unsere Muskeln spannen sich an, Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet. Unser Verdauungssystem wird heruntergefahren, weil in einem Überlebensmodus Verdauung nicht die höchste Priorität hat. Unsere Pupillen weiten sich, unsere Atmung wird flach und schnell.

Evolutionär war dieser Zustand überlebenswichtig. Ein Mensch, der in der Wildnis einem Raubtier begegnet, muss nicht nachdenken – er muss sofort reagieren. Entweder kämpft er oder er rennt um sein Leben.

Doch in der heutigen Zeit gibt es selten physische Bedrohungen. Stattdessen geraten wir in diesen Zustand durch soziale und psychische Stressoren: ein kritischer Blick, eine verletzende Nachricht, zu viele Anforderungen im Job, unser weinendes Kleinkind. Unser Nervensystem erkennt nicht den Unterschied zwischen einer realen Bedrohung und einem emotionalen Trigger – es reagiert auf beides mit dem gleichen Mechanismus.

Manche Menschen bleiben dauerhaft in diesem Zustand gefangen. Sie sind ständig angespannt, ihre Gedanken rasen, sie haben Schwierigkeiten, zur Ruhe zu kommen. Ihr Körper ist permanent in Alarmbereitschaft, weil ihr Nervensystem über Jahre gelernt hat, dass die Welt kein sicherer Ort ist.

Der dorsale Vagus-Zustand: Shutdown und Erstarrung

Wenn die Bedrohung zu groß wird und Kampf oder Flucht keine Option sind, greift unser Nervensystem auf eine noch ältere Überlebensstrategie zurück: Erstarrung.

In diesem Zustand übernimmt der dorsale Vagusnerv, der evolutionär älteste Teil des parasympathischen Systems. Statt sich auf Aktivität vorzubereiten, fährt der Körper jetzt alle Funktionen herunter. Die Herzfrequenz verlangsamt sich drastisch, die Atmung wird flach, der Körper fühlt sich schwer an. Oft erleben Menschen in diesem Zustand eine emotionale Taubheit oder eine Abtrennung von sich selbst – als wären sie nur noch Zuschauer ihres eigenen Lebens.

Dieser Zustand tritt ein, wenn unser Nervensystem keinen anderen Ausweg sieht. Kinder, die Vernachlässigung oder Missbrauch erlebt haben, können diesen Modus besonders häufig entwickeln, weil sie in einer hilflosen Situation keine Möglichkeit hatten, sich zu wehren oder zu fliehen. Ihr Nervensystem hat gelernt: Der sicherste Weg, mit Gefahr umzugehen, ist, sich völlig zurückzuziehen.

Erwachsene, die sich in toxischen Beziehungen oder in extrem stressreichen Situationen befinden, können ebenfalls in diesen Modus geraten. Man erkennt ihn daran, dass man sich nicht nur gestresst, sondern völlig ausgelaugt, motivationslos und emotional abgekoppelt fühlt. Menschen in diesem Zustand wirken oft depressiv oder antriebslos – doch in Wahrheit ist ihr Nervensystem in einem tiefen Schutzmodus gefangen.

Warum diese Zustände unser Leben bestimmen

Jeder dieser drei Zustände hat eine klare Funktion:

  • Der ventral-vagale Modus ermöglicht Sicherheit, Verbundenheit und Heilung.
  • Der sympathische Modus ermöglicht Aktivität, Kampf oder Flucht in Gefahrensituationen.
  • Der dorsale Vagus-Modus ermöglicht Schutz durch Erstarrung, wenn Flucht oder Kampf nicht möglich sind.

Das Problem ist, dass viele Menschen nicht bewusst zwischen diesen Zuständen wechseln können. Ihr Nervensystem bleibt in einem Zustand gefangen – entweder in chronischem Stress oder in chronischem Rückzug.

Menschen, die oft in den sympathischen Modus wechseln, kämpfen mit Ängsten, Überforderung, Reizbarkeit oder Schlafproblemen. Menschen, die oft im dorsalen Vagusmodus sind, fühlen sich chronisch erschöpft, depressiv oder dissoziiert.

Doch das Gute ist: Unser Nervensystem ist formbar. Es kann lernen, sich wieder sicher zu fühlen.

Warum die Polyvagaltheorie revolutionär ist

Die Polyvagaltheorie hat die Neurowissenschaft, Psychologie und Traumatherapie grundlegend verändert. Sie zeigt, dass unser Nervensystem viel komplexer arbeitet, als man lange dachte. Vor allem aber erklärt sie, warum Sicherheit der Schlüssel zu Heilung und sozialer Verbundenheit ist.

Bis vor wenigen Jahrzehnten galt das autonome Nervensystem als ein einfaches Zwei-Wege-System: Der Sympathikus sollte für Aktivierung und Kampf-oder-Flucht-Reaktionen sorgen, während der Parasympathikus für Entspannung und Regeneration zuständig war. Diese Vorstellung war zwar hilfreich, ließ aber viele Fragen unbeantwortet. Warum fühlen sich manche Menschen in sozialen Situationen sicher, während andere sich ständig bedroht fühlen? Warum reagieren manche bei Stress mit Wut, andere mit Rückzug oder Erstarrung? Und warum kann sich Trauma so tief in Körper und Psyche einbrennen, dass es das gesamte Leben beeinflusst?

Stephen Porges entdeckte, dass das Nervensystem nicht nur zwei, sondern drei zentrale Zustände kennt. Das allein war schon revolutionär. Doch noch bedeutsamer war seine Erkenntnis, dass unser Nervensystem nicht nur auf Bedrohung reagiert, sondern aktiv nach Signalen der Sicherheit sucht.

Warum Sicherheit wichtiger ist als Entspannung

Viele Menschen glauben, dass das Gegenteil von Stress Entspannung ist. Doch das ist nicht ganz richtig. Das Gegenteil von Stress ist Sicherheit. Erst wenn wir uns sicher fühlen, kann unser Nervensystem in den Zustand der sozialen Verbundenheit wechseln. Dann können wir uns entspannen, kreativ sein, Nähe zulassen und flexibel auf Herausforderungen reagieren.

Das bedeutet aber auch: Ohne ein Gefühl von Sicherheit ist tiefe Entspannung kaum möglich. Wer sich bedroht fühlt – sei es durch äußere Umstände oder alte Schutzmuster im Nervensystem –, kann nicht einfach „abschalten“. Das erklärt, warum viele Menschen trotz Yoga, autogenem Training oder Atemtechniken weiterhin angespannt sind. Ihr Nervensystem befindet sich nicht im sicheren Modus.

Warum Trauma und Bindungserfahrungen eine zentrale Rolle spielen

Die Polyvagaltheorie hat unser Verständnis von Trauma grundlegend verändert. Früher dachte man, dass Menschen nach belastenden Erlebnissen vor allem durch Erinnerungen oder Gedanken getriggert werden. Heute weiß man: Trauma ist nicht nur eine Erinnerung, sondern eine körperliche Reaktion.

Wenn jemand ein traumatisches Ereignis erlebt, wird sein Nervensystem in Alarmbereitschaft versetzt. Manchmal bleibt es dort stecken. Dann kann selbst eine harmlose Situation das Gefühl einer Bedrohung auslösen. Das passiert oft unbewusst. Menschen mit traumatischen Erfahrungen fühlen sich in sozialen Situationen oft unsicher oder misstrauisch, ohne zu wissen, warum.

Doch es geht nicht nur um offensichtliche Traumata. Auch frühe Bindungserfahrungen prägen unser Nervensystem. Ein Baby, das zuverlässige Nähe und Schutz erfährt, entwickelt ein Nervensystem, das Sicherheit kennt. Ein Kind, das Vernachlässigung oder emotionale Unsicherheit erlebt, lernt hingegen, dass die Welt nicht immer verlässlich ist. Sein Nervensystem bleibt auf der Hut – manchmal ein Leben lang.

Diese frühen Erfahrungen beeinflussen, wie wir als Erwachsene auf Stress reagieren. Fühlen wir uns schnell bedroht? Können wir uns leicht entspannen? Vertrauen wir anderen Menschen oder haben wir das Gefühl, dass wir uns immer selbst schützen müssen? Die Antworten auf diese Fragen sind oft tief in unserem Nervensystem verwurzelt.

Warum die Polyvagaltheorie die Psychotherapie verändert hat

Früher lag der Fokus in der Therapie oft auf kognitiven Prozessen: „Ändere deine Gedanken, dann verändert sich dein Verhalten.“ Doch viele Menschen mit Angst, Depression oder Trauma wissen genau, dass ihre Sorgen irrational sind. Und dennoch fühlen sie, wie sie fühlen. Das Problem liegt nicht im Denken, sondern im Körper.

Die Polyvagaltheorie erklärt, warum das so ist. Wenn das Nervensystem in einem Zustand von Bedrohung oder Erstarrung gefangen ist, reicht logisches Denken nicht aus. Sicherheit muss nicht nur verstanden, sondern körperlich gespürt werden. Der Körper braucht Signale, die ihm sagen: Es ist in Ordnung, loszulassen. Hier bin ich sicher. Erst dann kann sich der Geist entspannen, und erst dann können nachhaltige Veränderungen stattfinden.

Deshalb setzen moderne therapeutische Ansätze zunehmend auf körperorientierte Methoden. Atemtechniken, bestimmte Körperübungen, rhythmische Stimulation – all das kann dem Nervensystem helfen, aus der Erstarrung oder aus dem Stressmodus herauszukommen. Auch soziale Interaktion spielt eine zentrale Rolle. Denn unser Nervensystem sucht in anderen Menschen nach Signalen der Sicherheit – nach einer ruhigen Stimme, einem einfühlsamen Blick, einem Moment echter zwischenmenschlicher Verbindung.

Genau deshalb ist die Beziehung zwischen Therapeut*in und Klient*in der wichtigste Faktor in einem erfolgreichen therapeutischen Setting. Es funktioniert nicht, von der Klientin, dem Klienten schon in einem frühen Stadtium der Zusammenarbeit Vertrauen zu erwarten. Vertrauen ist kein Schalter, den man umlegt – es ist eine biologische Erfahrung, die sich nur in einem sicheren Rahmen entwickeln kann.

Viele Menschen, die mit (Entwicklungs-)trauma oder Bindungsunsicherheit kämpfen, haben in ihrem Leben immer wieder erlebt, dass Beziehungen unzuverlässig, bedrohlich oder überfordernd sind. Ihr Nervensystem hat gelernt, dass Nähe gefährlich sein kann. Deshalb ist es nicht überraschend, wenn sich ein*e Klient*in in einer neuen therapeutischen Beziehung zunächst unsicher oder skeptisch fühlt.

Die Aufgabe der Therapeutin oder des Therpeuten ist es also nicht, Vertrauen einzufordern, sondern einen Raum zu schaffen, in dem sich Sicherheit langsam entwickeln kann. Dieser Raum entsteht nicht durch Worte, sondern durch Regelmäßigkeit, emotionale Verlässlichkeit, Feinfühligkeit und eine klare, nicht bedrohliche Präsenz. Indem sich die Klientin, der Klient nach und nach sicher fühlt, macht das Nervensystem neue Erfahrungen: Nähe kann regulierend sein. Bindung kann heilsam sein. Sicherheit ist möglich.

Nur wenn diese Sicherheit da ist, kann sich das Nervensystem aus seinen alten Schutzmustern lösen. Deshalb arbeiten wir in der kontemplativen Psychologie nicht nur mit Gesprächen, sondern auch mit körperlichen Interventionen, mit sanfter Bewegung, mit Atemarbeit, mit rhythmischen Impulsen – all das kann das Nervensystem unterstützen, sich von Bedrohung in Sicherheit umzuschalten.

Heilung beginnt nicht mit der Veränderung von Gedanken. Heilung beginnt mit der Erfahrung von Sicherheit. Und diese Sicherheit entsteht in einem Raum, in dem Vertrauen nicht vorausgesetzt, sondern behutsam aufgebaut wird.

Warum das Verständnis der Polyvagaltheorie dein Leben verändern kann

Diese Theorie ist nicht nur für die Wissenschaft wichtig. Sie kann dir helfen, dein eigenes Verhalten und das Verhalten anderer besser zu verstehen.

Vielleicht hast du dich selbst schon einmal gefragt, warum du in manchen Situationen überreagierst, obwohl du es gar nicht willst. Warum du dich in bestimmten Momenten sozial öffnest und in anderen zurückziehst. Oder warum manche Menschen dir nahekommen können, während andere dich unbewusst abschrecken.

Die Antwort liegt oft in deinem Nervensystem. Es trifft Entscheidungen für dich, lange bevor dein bewusster Verstand eingreifen kann. Doch das bedeutet nicht, dass du ihm ausgeliefert bist. Dein Nervensystem kann lernen, sich sicherer zu fühlen – und dadurch können sich auch deine Reaktionen verändern.

Im nächsten Kapitel schauen wir uns an, wie du erkennst, in welchem Zustand dein Nervensystem gerade ist – und was du tun kannst, um dich öfter in den sicheren Modus zu bringen.

Die Polyvagaltheorie im Alltag: Was bedeutet das für dich?

Die Polyvagaltheorie ist nicht nur eine abstrakte wissenschaftliche Theorie – sie betrifft ganz unmittelbar dein tägliches Erleben. Sie erklärt, warum du dich in manchen Momenten sicher und offen fühlst, während du in anderen gestresst, gereizt oder zurückgezogen reagierst. Dein Nervensystem trifft diese Entscheidungen nicht bewusst. Es scannt permanent deine Umgebung auf Sicherheit oder Bedrohung – und steuert entsprechend, in welchem Zustand du dich befindest.

Das bedeutet: Viele deiner emotionalen Reaktionen sind keine bewussten Entscheidungen, sondern tief verwurzelte Schutzmechanismen. Wenn du dich in einer bestimmten Situation angespannt, unruhig oder emotional abgekoppelt fühlst, liegt das oft daran, dass dein Nervensystem unbewusst in den Kampf-oder-Flucht-Modus oder in die Erstarrung wechselt.

Doch das Wichtigste ist: Dieses System ist veränderbar. Dein Nervensystem kann lernen, sich sicherer zu fühlen. Es gibt Möglichkeiten, aktiv Einfluss darauf zu nehmen – und dadurch langfristig mehr innere Stabilität, Ruhe und Verbindung zu erleben.

Wie du erkennst, in welchem Zustand dein Nervensystem gerade ist

Um gezielt mit deinem Nervensystem zu arbeiten, ist es wichtig zu erkennen, in welchem Zustand du dich gerade befindest. Die drei Hauptzustände – soziale Sicherheit, Kampf-oder-Flucht, Erstarrung – haben klare Merkmale.

Wenn du dich im ventral-vagalen Modus befindest, fühlst du dich ruhig, präsent und mit anderen verbunden. Dein Körper ist entspannt, deine Atmung tief, dein Herz schlägt regelmäßig. Du bist aufmerksam, kannst klar denken und flexibel auf Herausforderungen reagieren. Soziale Interaktion fällt dir leicht, und du hast Zugang zu Mitgefühl – für dich selbst und für andere.

Der sympathische Modus bedeutet Aktivierung und Mobilisierung. Dein Herz schlägt schneller, deine Muskeln sind angespannt, dein Atem wird schneller. Diese Reaktion kann negativ sein – wenn du dich gehetzt, rastlos oder ängstlich fühlst –, aber sie kann auch positiv wirken.

Denn freudige Aufregung, ein hohes Motivationsniveau und kreative Spannung sind ebenfalls Ausdruck des sympathischen Modus. Wenn du dich auf eine Herausforderung freust – etwa vor einer wichtigen Präsentation oder einem sportlichen Wettkampf – aktiviert sich dein sympathisches Nervensystem, um dich wach, fokussiert und leistungsfähig zu machen. In diesem Fall ist der Modus hilfreich, weil du ihn bewusst nutzen kannst.

Problematisch wird es, wenn dein Nervensystem den sympathischen Zustand mit Bedrohung verbindet. Dann äußert sich die Aktivierung nicht als Vorfreude, sondern als innere Unruhe, Reizbarkeit oder Angst. Dein Nervensystem glaubt, dass es kämpfen oder fliehen muss – auch wenn objektiv keine Gefahr besteht.

Wenn dein Nervensystem in den dorsalen Vagusmodus geht, erlebst du das Gegenteil von Aktivierung. Deine Energie sinkt, dein Körper fühlt sich schwer an, dein Geist neigt zur Abschaltung. Du fühlst dich innerlich leer, antriebslos oder distanziert fühlen. In diesem Zustand fällt es oft schwer, sich aufzuraffen oder mit anderen in Kontakt zu treten.

In der heutigen Zeit gelingt es vielen Menschen immer schlechter, in einen echten Zustand ventral-vagaler Entspannung zu kommen. Stattdessen landen sie nach einem langen Tag in einer Art funktionaler Erstarrung. Sie sinken erschöpft aufs Sofa, oft mit dem Smartphone in der Hand, scrollen durch Social Media oder lassen sich vom Fernseher berieseln – nicht selten beides gleichzeitig. Ihr Nervensystem ist nicht mehr aktiv gestresst, aber auch nicht wirklich entspannt.

Das Window of Tolerance: Dein persönlicher Spielraum für Regulation

Dr. Daniel Siegel, Professor für Psychiatrie, prägte das Konzept des Window of Tolerance (auf Deutsch: Stresstoleranzfenster). Es beschreibt den Bereich, in dem dein Nervensystem flexibel auf Stress reagieren kann, ohne in Übererregung (Kampf-oder-Flucht) oder Untererregung (Erstarrung) zu kippen.

Innerhalb deines Windows of Tolerance kannst du Herausforderungen bewältigen, klar denken und dich emotional regulieren. Du kannst Stress wahrnehmen, ohne davon überwältigt zu werden. Doch wenn eine Situation dein Nervensystem überfordert, überschreitest du diese Grenze – und landest entweder im sympathischen Stressmodus oder im dorsalen Erstarrungsmodus.

Das Stresstoleranzfenster ist bei jedem Menschen unterschiedlich groß. Manche Menschen haben ein weites Fenster und können viel Stress bewältigen, ohne aus der Balance zu geraten. Andere haben ein sehr enges Fenster – oft aufgrund von früheren Traumata oder chronischem Stress. Ihr Nervensystem kippt schneller in einen Überlebensmodus.

Das bedeutet: Wenn du oft das Gefühl hast, zu stark zu reagieren oder dich zurückzuziehen, liegt das nicht an deiner persönlichen Unzulänglichkeit, sondern an den Grenzen deines Nervensystems. Doch dieses Fenster ist dehnbar. Durch gezielte Regulation kannst du es erweitern, sodass du mit Stress besser umgehen lernst, ohne aus der Balance zu geraten.

Was du tun kannst, um mehr im „sicheren Modus“ zu sein

Wenn du dich oft gestresst oder zurückgezogen fühlst, gibt es Möglichkeiten, dein Nervensystem sanft in Richtung Sicherheit zu lenken. Dabei geht es nicht darum, unangenehme Gefühle zu unterdrücken, sondern dein System zu unterstützen, sich aus dem Überlebensmodus zu befreien.

Eine der wirkungsvollsten Methoden ist bewusstes Atmen. Dein Atem beeinflusst dein Nervensystem direkt. Wenn du langsam ausatmest, signalisierst du deinem Körper, dass keine unmittelbare Gefahr besteht. Besonders hilfreich sind Atemtechniken, bei denen die Ausatmung länger als die Einatmung dauert.

Bewegung hilft, festgefahrene Zustände zu lösen. Wenn du im sympathischen Modus bist und dich gestresst fühlst, kann körperliche Aktivität dir helfen, die aufgestaute Energie abzubauen. Ein Spaziergang, sanftes Dehnen oder Tanzen können dein Nervensystem regulieren. Wenn du dich im dorsalen Vagusmodus – also in Erstarrung – befindest, kann Bewegung ebenfalls helfen, dich langsam wieder ins Leben zurückzuholen.

Soziale Interaktion ist ein natürlicher Regulator für dein Nervensystem. Der Austausch mit anderen Menschen kann dich in den sicheren Modus bringen – besonders, wenn die Begegnung von Wärme und Verständnis geprägt ist. Manchmal reicht schon eine ruhige Stimme oder ein einfühlsamer Blick, um das Nervensystem zu beruhigen.

Auch Musik und Berührung können tief auf dein Nervensystem wirken. Beruhigende Klänge, langsame Rhythmen und warme, sanfte Berührungen können Sicherheit signalisieren. Sogar das Summen oder Brummen bestimmter Töne kann den Vagusnerv aktivieren und dabei helfen, sich zu entspannen.

Dein Ziel ist nicht, nie wieder Stress oder Erstarrung zu erleben – das wäre unmöglich. Dein Ziel ist es, dein Window of Tolerance Schritt für Schritt zu erweitern, sodass du in herausfordernden Situationen stabiler bleibst. Je weiter dein Fenster wird, desto seltener wirst du dich überwältigt fühlen – und desto leichter kannst du zu einem Zustand der Sicherheit zurückkehren.

Im nächsten Kapitel schauen wir uns an, wie die Polyvagaltheorie konkret in der Behandlung von Entwicklungstraumata angewendet wird – und warum Sicherheit der erste Schritt zur Heilung ist.

Heilung mit der Polyvagaltheorie: Wege aus Trauma und Stress

Viele Menschen, die mit Angst, chronischem Stress oder den Folgen von Trauma kämpfen, haben schon unzählige Versuche unternommen, „positiver zu denken“, sich „zusammenzureißen“ oder „sich einfach nicht so reinzusteigern“. Doch all das funktioniert nur begrenzt – weil sich das eigentliche Problem nicht allein in den Gedanken befindet, sondern tief im Körper eingespeichert ist.

Die Polyvagaltheorie zeigt uns, dass Heilung (im Sinne von bewusster Integration der traumatischen Erfahrung in dein Leben) nicht durch reine Willenskraft geschieht, sondern durch das Erleben von Sicherheit. Erst wenn das Nervensystem spürt, dass es sicher ist, kann es sich aus Schutzmustern wie Übererregung oder Erstarrung lösen.

Doch wie genau funktioniert das? Und welche Methoden helfen, das Nervensystem nachhaltig zu regulieren?

Warum Sicherheit der Schlüssel zur Heilung ist

Entwicklungstrauma, chronischer Stress oder belastende Bindungserfahrungen prägen das Nervensystem tief. Wer als Kind emotionale Unsicherheit erlebt hat, entwickelt oft ein Nervensystem, das automatisch auf Gefahr eingestellt ist. Wer plötzliche oder schwere Traumata (Schocktraumata) erfahren hat, kann unbewusst in einem Zustand permanenter Alarmbereitschaft oder tiefer Erstarrung steckenbleiben.

Das bedeutet: Der Körper lernt Bedrohung als Normalzustand. Auch wenn es rational keinen Grund zur Angst gibt, sendet das Nervensystem weiterhin Signale der Unsicherheit. Dadurch kann es schwerfallen, Nähe zuzulassen, sich zu entspannen oder den eigenen Körper überhaupt als sicheren Ort zu erleben.

Deshalb beginnt Heilung nicht mit Einsicht oder kognitivem Verstehen, sondern mit einer tiefen körperlichen Erfahrung von Sicherheit. Erst wenn das Nervensystem begreift, dass es nicht mehr kämpfen oder sich abschotten muss, kann wirkliche Veränderung geschehen.

Die eigene Stresstoleranz erweitern: Der Weg zur inneren Stabilität

Ein zentraler Aspekt der Heilung ist das Erweitern des Window of Tolerance – also des Bereichs, in dem dein Nervensystem flexibel mit Stress umgehen kann, ohne in Übererregung oder Erstarrung zu kippen.

Menschen mit einem engen Window of Tolerance erleben oft extreme emotionale Schwankungen. Ein kleines Stressereignis kann sie in Angst und Überforderung versetzen, während Rückzug und Erschöpfung schnell zu einem Gefühl der inneren Leere führen.

Das Ziel von Heilung ist nicht, nie wieder Stress oder starke Emotionen zu erleben. Das Ziel ist es, das Nervensystem so zu regulieren, dass es sich schneller erholt – und dass es Herausforderungen begegnen kann, ohne völlig aus der Balance zu geraten.

Warum Heilung in Beziehung geschieht

Ein besonders wichtiger Punkt ist, dass echte Heilung fast immer in Beziehung geschieht. Die Polyvagaltheorie zeigt, dass unser Nervensystem auf soziale Sicherheit programmiert ist. Bindung ist kein Luxusgut – sie ist eine biologische Notwendigkeit.

Deshalb ist es kein Wunder, dass viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen Schwierigkeiten mit Nähe und Vertrauen haben. Ihr Nervensystem hat gelernt, dass Beziehungen potenziell gefährlich sind. Die gute Nachricht ist: Sicherheit kann neu gelernt werden.

Das bedeutet aber auch, dass in therapeutischen oder heilenden Beziehungen nicht erwartet werden kann, dass eine traumatisierte Person sofort Vertrauen fasst. Vertrauen ist kein bewusster Akt, sondern eine körperliche Erfahrung, die sich langsam aufbaut.

Therapeut*innen und Wegleiter+innen müssen daher in erster Linie einen sicheren Raum schaffen, in dem das Nervensystem sich nach und nach entspannen kann. Heilung geschieht nicht durch reine Gespräche, sondern durch wiederholte Erfahrungen von Sicherheit, Beständigkeit und emotionaler Verlässlichkeit.

Wer Trauma oder tiefen Stress heilen will, braucht also nicht nur Wissen und Techniken, sondern vor allem Begegnungen, die das Gefühl von Sicherheit nähren. Einfühlsame Menschen, ruhige, klare Stimmen, sanfte Berührungen, vertraute Rituale – all das hilft dem Nervensystem, sich neu zu orientieren.

Methoden, um dein Nervensystem nachhaltig zu regulieren

Jedes Nervensystem ist einzigartig, deshalb gibt es keine universelle Methode, die für alle funktioniert. Doch einige Ansätze haben sich als besonders wirksam erwiesen:

  • Atemarbeit: Besonders Atemtechniken mit verlängertem Ausatmen helfen, den Vagusnerv zu stimulieren und das Nervensystem zu beruhigen.
  • Rhythmische Bewegung: Gehen, sanftes Schaukeln oder gleichmäßige Bewegungen wie Tanzen oder Schwimmen können helfen, das Nervensystem zu stabilisieren.
  • Töne und Vibrationen: Summen, Brummen oder das Lauschen von tiefen, beruhigenden Klängen kann direkt auf den Vagusnerv wirken.
  • Körpertherapie: Methoden wie Somatic Experiencing oder traumasensible Berührung können helfen, gespeicherte Spannungen zu lösen.
  • Soziale Regulation: Der Kontakt mit vertrauten Menschen, warme Blicke, sanfte Berührung oder beruhigende Stimmen können helfen, das Nervensystem in Sicherheit zu bringen.

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

Die Polyvagaltheorie eröffnet eine völlig neue Perspektive auf unser Nervensystem, unsere Emotionen und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Wer tiefer in das Thema eintauchen möchte, findet in diesen Büchern wertvolle wissenschaftliche Hintergründe und praxisnahe Ansätze, um das eigene Nervensystem besser zu verstehen und gezielt zu regulieren.

Porges, Stephen (2023). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. G. P. Probst Verlag

Porges, Stephen (2010). Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation & ihre Entstehung. Jungferman-Verlag

Dana, Deb (2018). Arbeiten mit der Polyvagal-Theorie: Übungen zur Förderung von Sicherheit und Verbundenheit. G.P. Probst Verlag

Charf, Dami (2018). Auch alte Wunden können heilen: Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und – wir dennoch Frieden in uns selbst finden können. Kösel-Verlag

Fazit: Warum es sich lohnt, dein Nervensystem kennenzulernen

Die Polyvagaltheorie gibt uns eine neue Perspektive darauf, warum wir fühlen und reagieren, wie wir es tun. Sie zeigt, dass unser Nervensystem in jedem Moment unbewusst entscheidet, ob wir uns sicher fühlen oder nicht – und dass diese Entscheidung unser gesamtes Erleben beeinflusst. Wenn wir uns sicher fühlen, können wir wachsen, kreativ sein und uns mit anderen verbinden. Wenn unser Nervensystem Bedrohung wahrnimmt, geraten wir in Stress oder ziehen uns zurück, selbst wenn objektiv keine Gefahr besteht.

Dieses Wissen kann uns helfen, mit uns selbst und mit anderen anders umzugehen. Es ermöglicht uns, unsere eigenen Reaktionen mit mehr Mitgefühl zu betrachten, statt sie als „übertrieben“ oder „unangemessen“ zu bewerten. Es hilft uns, die Dynamiken in unseren Beziehungen besser zu verstehen – warum wir uns in manchen Begegnungen sofort wohlfühlen und in anderen instinktiv auf Distanz gehen. Und es erinnert uns daran, dass Heilung und Veränderung nicht allein im Kopf geschehen, sondern durch das Erleben von Sicherheit im Körper.

Sicherheit ist die Grundlage für ein stabiles, erfülltes Leben. Doch in einer Welt, die oft hektisch und fordernd ist, wird es immer schwieriger, diesen Zustand bewusst zu erreichen. Je besser wir unser Nervensystem verstehen, desto gezielter können wir es unterstützen – und desto leichter fällt es uns, auch in herausfordernden Situationen stabil zu bleiben.

Die wichtigste Frage, die du dir stellen kannst, lautet:

„Wie fühlt sich Sicherheit für mich an – und wie kann ich sie in meinem Alltag kultivieren?“

Vielleicht spürst du sie in einem tiefen Atemzug, in einem vertrauten Blick, in der Ruhe eines Spaziergangs oder in einem Moment echter Verbundenheit. Dein Nervensystem kann lernen, sich sicherer zu fühlen – und mit jedem Schritt in diese Richtung öffnet sich ein neuer Raum für innere Stabilität, Lebendigkeit und echte Verbindung.

Ich bin gespannt: Wie erlebst du Sicherheit? Was hilft dir, dich zu regulieren? Teile deine Gedanken und Erfahrungen gerne in den Kommentaren – ich freue mich auf den Austausch mit dir!

4 Antworten zu „Polyvagaltheorie einfach erklärt: So beeinflusst dein Nervensystem dein Leben und deine Beziehungen“

  1. Avatar von Saskia Dauvermann

    Liebe Pia,
    wow! Was für ein informativer Artikel! So wertvoll, was du uns an Wissen, Erläuterung und Anwendungsmöglichkeiten aufweist. Ich bin sehr beeindruckt und habe deinen Artikel sehr gerne gelesen. Wirklich schön, mit welcher Leichtigkeit du komplexe Inhalte erklärst. Ganz große Wertschätzung von mir!
    Liebe Grüße, Saskia

    1. Avatar von Pia

      Liebe Saskia,

      dein Kommentar hat mir ein großes Lächeln ins Gesicht gezaubert – danke von Herzen für deine wertschätzenden Worte! Es freut mich unglaublich, dass der Artikel dich abgeholt hat. Gerade komplexe Themen verständlich und zugänglich zu machen, liegt mir sehr am Herzen – umso schöner zu lesen, dass das bei dir angekommen ist!

      Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, mir dieses wundervolle Feedback zu hinterlassen! 💛

      Alles Liebe für dich,
      Pia

  2. Avatar von Hilke Barenthien

    Lieben Dank für diesen beeindruckend interessanten Artikel. Ich habe soviel dabei gelernt und einiges mitgenommen. Alles Gute, Hilke

    1. Avatar von Pia

      Liebe Hilke,

      von Herzen DANKE für deinen sehr wertschätzenden Kommentar! Ich freue mich riesig, dass du einiges aus meinem Blogartikel mitnehmen konntest.

      Sehr herzlich
      Pia

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Hallo - schön, dass du hier bist!

Mein Name ist Pia Hübinger.

Ich bin Diplompädagogin, psychologische Beraterin und Karuna-Trainerin im Rhein-Sieg-Kreis.

Ich unterstütze dich, lebendige, freundliche Beziehungen mit dir selbst und Anderen aufzubauen und auch in schwierigen Situationen dem Leben mit Wertschätzung und Zuversicht zu begegnen.

Da Beziehungen überall dort eine Rolle spielen, wo sich Menschen begegnen, arbeite ich sowohl mit Einzelpersonen, Paaren und Familien als auch mit Kindergärten, Schulen und Unternehmen.

Egal, welches Anliegen dich hierhergeführt hat: Ich heiße dich herzlich willkommen!

Leben ist nicht immer leicht. Manchmal geraten wir in Krisen und stecken fest in unseren Gefühlen und Gedanken. In geschütztem Rahmen begleite und unterstütze ich dich in herausfordernden Lebenssituationen. 

Vorwürfe, Distanz, ständig wiederkehrende Konflikte belasten deine Paarbeziehung oder dein Familienleben? Du fühlst dich nicht gehört, nicht gesehen, nicht verstanden? 

Menschen in sozialen und helfenden Berufen, die ihre Arbeit dem Wohlergehen Anderer widmen, finden hier einen geschützten Raum für die professionelle Reflexion ihrer Arbeit. 

Achtsamkeitstraining für Kinder fördert die Konzentration, emotionale Stabilität und soziale Kompetenz. In der heutigen schnelllebigen Welt sind auch Kinder oft hohen Anforderungen und Stress ausgesetzt. 

In der heutigen schnelllebigen Arbeitswelt ist es wichtiger denn je, dass Institutionen und Unternehmen gleich welcher Branche in die Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter*innen investieren. 

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