Ein warmer Sommertag im Jahr 1984. Ich saß mit meiner Mutter im Garten, und sie fragte mich das kleine Einmaleins ab. Ich weinte und sie wurde laut, denn es wollte einfach nicht klappen. Zwar konnte ich die Reihen auswendig, aber sobald eine Aufgabe außerhalb dieser Reihenfolge gestellt wurde, war ich verloren. „Bist du zu blöd für solche einfachen Aufgaben?“, fragte sie ungeduldig. In diesem Moment wurde ein Samen in mir gepflanzt, eine Überzeugung, die mich lange begleiten sollte: Ich kann einfach kein Mathe.
Diese Überzeugung zog sich durch meine Schulzeit, mal mit besseren, mal mit schlechteren Noten. Sogar vom Psychologiestudium riet man mir ab – „wegen Mathe“. Einige Jahre später, zu Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit an der Uni Köln, wurde mir die statistische Auswertung verschiedener Studien übertragen.
Wie kam es dazu?
Kurz nach Beginn meines Studiums veröffentlichte Carol Dweck, Professorin für Psychologie an der Stanford University, ihre bahnbrechenden Forschungen über das Growth Mindset. Fast zeitgleich lernte ich die revolutionären Erkenntnisse zur Neuroplastizität kennen. Diese wissenschaftlichen Durchbrüche offenbarten, dass unser Gehirn physisch darauf angelegt ist, sich ständig weiterzuentwickeln und zu wachsen. Es formt sich durch Erfahrungen, Anstrengung, Durchhaltevermögen und gezieltes Lernen. Diese Erkenntnisse veränderten nicht nur mein eigenes Denken, sie prägten auch maßgeblich meine Arbeit als Pädagogin, Dozentin und Psychologin.
In meiner Arbeit mit Klient*innen begegne ich häufig Menschen, die unter starren Selbstbildern leiden. Viele kämpfen mit geringem Selbstwert, fühlen sich wie Hochstapler (Imposter-Syndrom) oder trauen sich wenig zu. Diese Einschränkungen sind oft das Ergebnis von festen Überzeugungen über ihre eigenen Fähigkeiten und Potenziale.
In diesem Artikel werden wir tief in die wissenschaftliche Grundlage des Growth Mindset eintauchen und erkunden, wie es unser Verständnis von Intelligenz, Fähigkeiten und persönlicher Entwicklung beeinflusst.
Die Inhalte dieses Blogartikels:
ToggleDefinition des Growth Mindset und Abgrenzung zum Fixed Mindset
Growth Mindset ist definiert als die Überzeugung, dass unsere geistigen und körperlichen Fähigkeiten nicht festgelegt sind, sondern durch Anstrengung und Lernen entwickelt und gestärkt werden können. Personen mit einem Growth Mindset sehen sich selbst als work in progress. Sie verstehen, dass ihre Fähigkeiten durch harte Arbeit, gute Strategien, Durchhaltevermögen und konstruktives Feedback verbessert werden können. Solche Individuen neigen dazu, Herausforderungen zu begrüßen, Ausdauer bei Schwierigkeiten zu zeigen und Misserfolge als notwendige Bestandteile des eigenen Entwicklungsprozesses zu betrachten.
Abgrenzung zum Fixed Mindset
Im Gegensatz dazu steht das Fixed Mindset. Es basiert auf der Annahme, dass unsere Grundfähigkeiten, Intelligenz und Talente genetisch festgelegt sind und nicht wesentlich verändert werden können. Menschen mit einem Fixed Mindset glauben, dass Erfolg von angeborenen Fähigkeiten abhängt und dass Anstrengung nicht ausreicht, um ihre Grenzen zu überschreiten. Dies führt oft dazu, dass sie Herausforderungen meiden, leicht aufgeben und konstruktives Feedback als persönlichen Angriff empfinden.
Die Bedeutung der Unterscheidung
Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Mindsets ist entscheidend, weil sie tiefgreifende Auswirkungen auf das Lernverhalten und die allgemeine Lebenseinstellung einer Person hat. Ein Growth Mindset fördert eine lebenslange Liebe zum Lernen und eine resiliente Haltung gegenüber dem Scheitern. Es motiviert Individuen, über ihre angenommenen Grenzen hinauszuwachsen und aktiv nach Wegen zu suchen, sich selbst und ihre Fähigkeiten zu verbessern.
Im Gegensatz dazu kann ein Fixed Mindset zu einer statischen Weltanschauung führen, in der Menschen glauben, dass sie bestimmte Dinge „einfach nicht tun können“. Diese Haltung kann das persönliche und berufliche Wachstum erheblich einschränken und zu Frustration und Resignation führen, wenn man mit neuen Herausforderungen konfrontiert wird.
Die wissenschaftliche Fundierung des Growth Mindset
Die Forschungsarbeiten von Carol Dweck haben unser Verständnis davon, wie Menschen lernen und sich entwickeln, revolutioniert. Ihre Untersuchungen zum Growth Mindset zeigen auf, wie unsere Einstellung zu Fähigkeiten und Intelligenz unser gesamtes Lernverhalten und unsere Leistung beeinflussen kann. In diesem Kapitel werfen wir einen genaueren Blick auf die verschiedenen Studien.
Frühe Studien zu Lob und Mindset
Eines von Dwecks frühesten Experimenten untersuchte den Einfluss verschiedener Arten von Lob auf die Leistung und die Wahl der Aufgaben bei Kindern. In dieser Studie wurden Kinder nach dem Lösen von Aufgaben entweder für ihre Intelligenz oder ihre Anstrengung gelobt. Dweck beobachtete, dass Kinder, die für ihre Intelligenz gelobt wurden, dazu neigten, anschließend leichtere Aufgaben zu wählen, um weiterhin erfolgreich zu wirken und ihr Zuschreibung als intelligent zu bewahren.
Im Gegensatz dazu bevorzugten Kinder, die für ihre Anstrengung gelobt wurden, schwierigere Aufgaben, die ihnen mehr Lernmöglichkeiten boten. Diese Entdeckung legt nahe, dass Lob, das auf unveränderliche Eigenschaften wie Intelligenz abzielt, zu einem Fixed Mindset führen kann, während Lob, das sich auf kontrollierbare Prozesse wie Anstrengung bezieht, ein Growth Mindset fördert.
Weiterführende Forschungen zum Einfluss von Mindsets
In weiterführenden Studien vertiefte Dweck die Untersuchung der Langzeiteffekte der beiden Mindsets. Sie und ihr Team folgten Schüler*innen über mehrere Jahre, um zu erforschen, wie ein früher etabliertes Mindset akademische Leistungen beeinflusst. Sie fanden heraus, dass Schüler*innen mit einem Growth Mindset – die glauben, dass sie ihre Fähigkeiten durch Anstrengung verbessern können – über die Jahre hinweg eine steigende Leistungskurve zeigten. Diese Schüler*innen waren eher bereit, sich Herausforderungen zu stellen. Sie sahen Fehler als Lerngelegenheiten und passten ihre Lernstrategien flexibel an, was zu höheren akademischen Erfolgen führte.
Neurologische Untermauerung des Growth Mindsets
Moderne neurologische Forschungen haben die Ideen von Dweck weiter bestätigt. Studien zur Neuroplastizität, die Fähigkeit des Gehirns, sich als Reaktion auf Lernen zu verändern, unterstützen die Annahme, dass unsere kognitiven Fähigkeiten nicht festgelegt sind. Bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass das Gehirn bei Personen mit einem Growth Mindset aktive Veränderungen und Verbindungen in den Hirnarealen durchläuft, die für Lernen und Gedächtnisbildung zuständig sind, wenn sie mit neuen Herausforderungen konfrontiert werden. Diese Erkenntnisse bestärken die Ansicht, dass durch das Streben nach Lernen und Entwicklung tatsächliche physische Veränderungen im Gehirn stattfinden können.
Die tiefgreifenden Vorteile eines Growth Mindset
Das Growth Mindset ist ein kraftvolles Konzept, das weit über akademische oder berufliche Kontexte hinausreicht. Es beeinflusst, wie wir Herausforderungen begegnen, wie wir mit anderen interagieren und wie wir unser eigenes Potenzial begreifen.
Förderung von Resilienz und Durchhaltevermögen
Ein Kernaspekt des Growth Mindsets ist die Entwicklung von Resilienz. Diese psychologische Widerstandskraft ermöglicht es Individuen, sich von Rückschlägen schneller zu erholen und aus Fehlern zu lernen, anstatt sich von ihnen entmutigen zu lassen. Diese Fähigkeit ist entscheidend in einer Welt, die zunehmend durch Komplexität und schnelle Veränderungen gekennzeichnet ist. Menschen mit einem Growth Mindset verstehen, dass jeder Misserfolg eine Gelegenheit zur Selbstreflexion und Neuausrichtung bietet und somit ein Schritt auf dem Weg zur Meisterschaft sein kann.
Verbesserung der akademischen und beruflichen Leistung
Das Growth Mindset trägt signifikant zur Steigerung der akademischen Leistung bei, indem es Lernende ermutigt, sich aktiv mit schwierigen Aufgaben auseinanderzusetzen und persistenter zu sein. In beruflichen Kontexten fördert es die Bereitschaft, innovative Lösungen zu suchen und sich kontinuierlich weiterzubilden. Unternehmen, die ein Growth Mindset kultivieren, erleben oft eine Steigerung der Produktivität und Kreativität, da Mitarbeiter*innen ermutigt werden, über den Tellerrand hinaus zu denken und bestehende Prozesse zu hinterfragen.
Steigerung der intrinsischen Motivation
Das Growth Mindset nährt eine tiefe, intrinsische Motivation, indem es den Wert des Lernprozesses selbst betont, unabhängig von äußeren Belohnungen. Diese Art der Motivation ist dauerhafter und führt zu einer authentischeren Engagement für Aufgaben. Individuen, die aus innerem Antrieb handeln, setzen sich oft höhere Ziele und erleben größere Befriedigung in der Verfolgung und Erreichung dieser Ziele.
Verbesserung der sozialen Beziehungen und der emotionalen Intelligenz
Ein weiterer bedeutender Vorteil des Growth Mindsets liegt in der Verbesserung sozialer Beziehungen und der emotionalen Intelligenz. Individuen, die ein Growth Mindset verinnerlichen, sind in der Regel empathischer, da sie die persönliche Entwicklung anderer als einen ähnlichen, fortwährenden Prozess erkennen. Sie sind eher bereit, konstruktives Feedback zu geben und anzunehmen, was zu tieferen und unterstützenderen Beziehungen führt.
Langfristig führt ein Growth Mindset zu einer Lebensweise, die von persönlichem Wachstum und kontinuierlicher Selbstverbesserung geprägt ist. Individuen, die dieses Mindset pflegen, erleben oft ein reicheres, zufriedeneres Leben, da sie ständig neue Fähigkeiten erlernen und sich weiterentwickeln. Dieses fortwährende Streben nach Verbesserung kann zu einem erfüllteren und sinnvolleren Dasein führen.
Herausforderungen und Missverständnisse beim Growth Mindset
Das Growth Mindset ist ein kraftvolles Konzept, das das Potenzial hat, unsere Sicht auf Lernen und Entwicklung zu transformieren. Doch wie bei jeder neuen Idee gibt es auch hier tiefgreifende Herausforderungen und weit verbreitete Missverständnisse, die seine Implementierung und Wirksamkeit beeinträchtigen können. In diesem Kapitel möchte ich einige dieser häufigen Fallstricke beleuchten und Wege aufzeigen, wie wir sie überwinden können.
Ein Growth Mindset bedeutet, alles erreichen zu können
Eines der größten Missverständnisse ist die Annahme, ein Growth Mindset würde bedeuten, dass jeder alles erreichen kann, wenn er nur genug will und sich anstrengt. Diese Simplifizierung kann zu Frustration und Enttäuschung führen, wenn die Ergebnisse trotz großer Anstrengungen ausbleiben. Es ist wichtig zu verstehen, dass das Growth Mindset nicht die Abwesenheit von Grenzen impliziert, sondern die Möglichkeit, diese Grenzen weiter zu verschieben, als wir es vielleicht für möglich gehalten haben.
Die Balance zwischen Förderung und Druck
Ein zentrales Element des Growth Mindsets ist die Betonung von Anstrengung und Ausdauer. Dies kann jedoch zu der Herausforderung führen, eine gesunde Balance zwischen Anstrengung und Überforderung zu finden. Insbesondere in Bildung und Beruf kann der Druck, kontinuierlich zu wachsen und sich zu verbessern, zu Burnout und Stress führen. Es ist wichtig, Strategien zu entwickeln, die nicht nur das Wachstum fördern, sondern auch das Wohlbefinden unterstützen und eine nachhaltige Leistungsfähigkeit sicherstellen.
Anwendungsbereiche des Growth Mindset
Ein weiteres Missverständnis ist die Annahme, das Growth Mindset sei ausschließlich im akademischen Bereich relevant. Tatsächlich kann dieses Mindset in jedem Lebensbereich transformative Wirkungen entfalten, von sportlichen Aktivitäten über künstlerische Unternehmungen bis hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Verständnis, dass das Growth Mindset eine universelle Anwendbarkeit hat, ist entscheidend, um seine volle Kraft zu entfalten und in allen Lebensbereichen eine Kultur des Lernens und der Entwicklung zu fördern.
Die Umsetzung in bestehende Strukturen
Die Integration eines Growth Mindsets in bestehende Bildungs- oder Arbeitsstrukturen kann herausfordernd sein.
Das Einbetten eines Growth Mindsets in bestehende Bildungs- oder Organisationskulturen kann eine erhebliche Herausforderung darstellen. Institutionen, die tief in Traditionen oder einem festen Leistungsdenken verwurzelt sind, finden oft Schwierigkeiten, die flexibleren, fehlertoleranten Ansätze, die das Growth Mindset fördert, zu adaptieren. Die Umstellung erfordert oft eine umfassende kulturelle Veränderung, die nicht über Nacht geschieht. Sie erfordert oft nicht nur Anpassungen in der Kommunikation oder Bewertung, sondern auch grundlegende Veränderungen in den Wertesystemen und Strukturen der Institutionen. Es kann daher hilfreich sein, sich für diesen Prozess Unterstützung von außen zu suchen.
Growth Mindset als Allheilmittel
Ein weiteres häufiges Missverständnis ist die Betrachtung des Growth Mindsets als Allheilmittel für jede Herausforderung im Bildungs- und Berufsbereich. Während ein Growth Mindset viele positive Auswirkungen haben kann, ist es wichtig zu erkennen, dass es in Kombination mit anderen unterstützenden Strategien und Bedingungen am wirkungsvollsten ist. Es ist kein Ersatz für qualitativ hochwertige Bildung, Zugang zu Ressourcen oder emotionale Unterstützung.
Abschließende Gedanken zum Growth Mindset
Das Growth Mindset ist weit mehr als ein pädagogisches Werkzeug. Es ist eine Lebensphilosophie. Sie lehrt uns, dass Entwicklung und persönliches Wachstum möglich sind. Und sie ermutigt uns, uns hinauszuwagen über die Grenzen, die wir uns einst gesetzt haben. Diese Haltung zu verinnerlichen, bedeutet, eine Haltung der Offenheit, des ständigen Fragens und des tiefen Glaubens an die Möglichkeit der Veränderung zu entwickeln.
Die tägliche Pflege eines Growth Mindsets beginnt mit der Art und Weise, wie wir über uns selbst und unsere Fähigkeiten denken. Es erfordert von uns, selbstkritische Stimmen, die uns klein halten wollen, zu erkennen und umzuschreiben. Statt „Ich kann das nicht“ könnte unser innerer Dialog sagen: „Ich kann das noch nicht, aber ich bin auf dem Weg, es zu lernen.“ Solche kleinen sprachlichen Anpassungen können tiefgreifende Auswirkungen auf unser Selbstbild und unsere Selbstwirksamkeit haben.
Eine wachstumsorientierte Haltung zu pflegen bedeutet auch, Geduld mit uns selbst und anderen zu haben. Veränderung ist oft ein langsamer und unsichtbarer Prozess. Es ist wichtig, den Wert jedes Schrittes zu erkennen, egal wie klein er erscheint. Mitgefühl – sowohl für uns selbst in unseren eigenen Kämpfen als auch für andere in ihren Bemühungen – stärkt unsere Entschlossenheit und fördert eine tiefere menschliche Verbindung.
Schließlich geht es beim Growth Mindset nicht nur um individuelle Veränderung. Es geht auch um die Kultivierung einer Kultur, die das Wachstum aller fördert. Indem wir eine Umgebung schaffen, in der Offenheit für Lernen und Fehler als wertvolle Teile des Wachstumsprozesses angesehen werden, können wir nicht nur unser eigenes Leben bereichern, sondern auch einen positiven Einfluss auf unsere Gemeinschaften und Arbeitsplätze haben.
Das Growth Mindset bietet uns ein robustes Fundament, um nicht nur zu überleben, sondern zu gedeihen – in stetem Wachstum und ständiger Entwicklung.
Weiterführende Ressourcen
Im Folgenden findest du eine Auswahl an Ressourcen, die dir dabei helfen können, sowohl dein Verständnis zu erweitern als auch praktische Anwendungen für dein tägliches Leben zu finden.
Bücher
Selbstbild: Wie unser Denken Erfolge oder Niederlagen bewirkt von Carol S. Dweck. Das grundlegende Werk, das das Konzept des Growth Mindset eingeführt hat.
Grit: The Power of Passion and Perseverance von Angela Duckworth. Ein Buch, das die Bedeutung von Ausdauer und Leidenschaft für langfristige Ziele untersucht.
Alles ist schwer, bevor es leicht ist: Wie Lernen gelingt von Caroline von St. Ange. Eine wahre Inspirationsquelle für Eltern und Lehrkräfte mit zahlreichen praxisnahen Ideen, um die Freude am Lernen in Kindern zu wecken.
TED Talks
You think you have a growth mindset, but do you? von Luna Leverett
The power of yet von Carol S. Dweck
Hast du Erfahrungen mit dem Fixed oder Growth Mindset gemacht, die du teilen möchtest? Vielleicht eine Herausforderung, bei der ein Wechsel der Perspektive dir geholfen hat? Oder eine Situation, in der dein Mindset dein Lernen oder deine Arbeit beeinflusst hat? Ich lade dich sehr herzlich ein, deine Gedanken und Erfahrungen in den Kommentaren zu teilen.
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