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ToggleWie Offenheit und Anfängergeist unsere Beziehungen bereichern
In einer Welt, die von Wissen und vermeintlicher Expertise beherrscht wird, mag es überraschend erscheinen, das Nichtwissen als wertvolle Haltung zu betrachten. Doch genau diese Haltung, die Offenheit und Neugierde verkörpert, prägt meine Arbeit zutiefst und beeinflusst ebenso meine Rolle als Mutter. In einer Kultur, die Antworten schätzt und nach Sicherheit strebt, möchte ich in diesem Artikel das Nichtwissen und den damit verbundenen Anfängergeist in den Mittelpunkt stellen – nicht als Gegenteil von Wissen, sondern als notwendige Ergänzung.
Dieser Artikel ist inspiriert von der Blogparade „Nichtwissen: Fluch oder Segen?“ von Susanne Wagner, die dazu einlädt, das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Ihre Leitfragen – Was bedeutet Nichtwissen für mich persönlich? Welche Rolle spielt Nichtwissen in meinem beruflichen oder privaten Alltag? Wie gehe ich mit Nichtwissen um? – bieten einen wunderbaren Rahmen, um sich tiefer mit diesem fast schon philosophischem Thema auseinanderzusetzen.
Nichtwissen als wertvolle Haltung
Wenn ich von Nichtwissen spreche, meine ich nicht Unwissenheit oder blauäugige Naivität. Nein, ich meine die bewusste Entscheidung, Raum für das Unbekannte zu lassen, für das, was sich im Moment entfaltet, ohne es mit vorgefertigten Antworten oder Annahmen zu überlagern. Diese Haltung ermöglicht es mir, meine Klient*innen in ihrer ganzen Komplexität zu sehen, ohne sie auf Kategorien oder Diagnosen zu reduzieren. Sie erlaubt mir, in jeder Begegnung offen zu sein für das, was sich zeigt – und für das, was sich vielleicht erst offenbart, wenn wir gemeinsam den Mut haben, in das Unbekannte einzutauchen.
Susanne Wagner fragt: „Welche Bedeutung hat Nichtwissen in deinem beruflichen Alltag?“ Für mich ist das Nichtwissen in meiner Arbeit mit Menschen keine Schwäche, sondern eine Stärke. Es erlaubt mir, jenseits der offensichtlichen Antworten und vorgefertigten Lösungen zu suchen. Es erfordert den Mut, die Kontrolle loszulassen und den Prozess zu umarmen – und es schafft einen Raum, in dem echte Transformation möglich wird.
Der Anfängergeist: Eine Einladung zur Offenheit
Der Anfängergeist, ein Konzept aus dem Zen-Buddhismus, beschreibt die Haltung, allem im Leben mit den Augen eines Anfängers zu begegnen – neugierig, offen und unvoreingenommen. Diese Haltung ist besonders wertvoll in einer Welt, die oft von Routine und festgefahrenen Denkweisen geprägt ist. Der Anfängergeist lädt uns ein, unsere Annahmen zu hinterfragen und die Welt mit frischen Augen zu betrachten.
Im Coaching bedeutet dies, dass ich mich nicht als Expertin sehe, die fertige Antworten bereithält. Stattdessen gehe ich mit einem offenen Geist in jede Sitzung, bereit, gemeinsam mit meinen Klient*innen neue Perspektiven zu entdecken. Dieser Ansatz ermöglicht es uns, tiefer zu gehen, unter die Oberfläche zu schauen und das zu erforschen, was im gegenwärtigen Moment wirklich präsent ist.
Die Auswirkungen des Nichtwissens auf die Kommunikation
Unsere Art zu kommunizieren ist oft geprägt von dem, was wir zu wissen glauben. Wie häufig unterbrechen wir unser Gegenüber, weil wir denken, schon zu wissen, was er oder sie sagen will? Wie oft projizieren wir unsere eigenen Konzepte und Muster auf das Gespräch, anstatt wirklich zuzuhören?
Wenn wir mit einer Haltung des Nichtwissens in die Kommunikation gehen, ändern sich die Dynamiken. Wir werden offener, achtsamer, weniger geneigt, die Worte unseres Gegenübers zu unterbrechen oder zu interpretieren. Diese Offenheit schafft Raum für echtes Zuhören – ein Zuhören, das nicht nur die Worte, sondern auch die Zwischentöne wahrnimmt. Indem wir anerkennen, dass wir die Geschichte des anderen nicht vollständig kennen, laden wir uns selbst ein, neugierig zu bleiben und wirklich in den Dialog einzutauchen, anstatt uns auf unsere vorgefassten Meinungen zu stützen.
Diese Haltung verhindert das oft entstehende Gefälle in der Kommunikation, besonders in Beratungs- oder Coaching-Situationen. Wenn wir Ratschläge geben, ohne das volle Bild zu kennen – ohne zu wissen, was der andere schon ausprobiert hat, welche Kämpfe er bereits ausgefochten hat – laufen wir Gefahr, die Beziehung auf ein ungleiches Niveau zu stellen. Unser Gegenüber fühlt sich möglicherweise nicht ernst genommen, weil seine individuellen Erfahrungen nicht ausreichend gewürdigt werden.
Nichtwissen in der Erziehung
Die Haltung des Nichtwissens hat auch einen tiefen Einfluss auf die Art und Weise, wie ich meine Kinder erziehe. Als Expertin für frühe und mittlere Kindheit verfüge ich über ein großes Wissen über Bindungsentwicklung, bedürfnisorientierte Erziehung, Meilensteine in der kindlichen Entwicklung und all die anderen Aspekte, die das Aufwachsen meiner Kinder beeinflussen. Dieses Wissen hilft mir sehr, fundierte Entscheidungen zu treffen und meine Kinder in ihrer Entwicklung bestmöglich zu unterstützen.
Doch gleichzeitig weiß ich, dass jedes meiner Kinder einzigartig ist. Was für das eine Kind gut und richtig ist, mag für das andere gar nicht passen. Genau hier kommt die Haltung des Nichtwissens ins Spiel. Sie erinnert mich daran, dass ich, trotz all meines Wissens, nicht alles wissen kann. Jedes Kind hat seine eigene Geschichte, seine eigenen Bedürfnisse, seine eigenen Herausforderungen und Stärken.
In der Praxis bedeutet das, dass ich versuche, jeden Tag meine Kinder mit frischem, wachem Blick zu sehen – ohne die Annahme, dass das, was gestern funktioniert hat, auch heute noch gilt. Ich versuche, meine Kinder in ihrer Einzigartigkeit zu sehen und offen zu bleiben für das, was sie mir zeigen wollen. Diese Haltung erlaubt es mir meist, flexibel und achtsam zu bleiben, auf das zu reagieren, was im Moment wirklich wichtig ist, und nicht auf das, was ich erwarte oder glaube zu wissen.
Exkurs: Allwissenheit vs. Fehlerhaftigkeit
Früher war es oft üblich, dass Eltern sich als fehlerlos und allwissend präsentierten – eine Art unerschütterliche Autorität, die stets die richtigen Antworten parat hatte. Diese Haltung, so gut sie auch gemeint war, hat jedoch eine Distanz geschaffen. Kinder fühlten sich oft klein und unzureichend, weil sie annahmen, sie müssten diesen hohen Erwartungen gerecht werden.
Doch es ist von unschätzbarem Wert, wenn unsere Kinder uns als fehlerhafte Menschen kennenlernen – als Eltern, die nicht immer alles wissen, die auch Unsicherheiten und Zweifel haben. Wenn wir bereit sind, unsere eigenen Fehler einzugestehen und zu zeigen, dass wir selbst ständig lernen, vermitteln wir eine lebenswichtige Botschaft: Fehler gehören zum Menschsein dazu. Sie sind keine Makel, die uns minderwertig machen, sondern Chancen, um zu wachsen und zu reifen.
Diese Offenheit baut Brücken zu unseren Kindern. Sie erleben uns als authentisch und menschlich, und sie erkennen, dass niemand perfekt ist. Das gibt ihnen den Mut, eigene Fehler zuzulassen und aus ihnen zu lernen, anstatt sich von ihnen entmutigen zu lassen. Wenn wir unseren Kindern vermitteln, dass auch wir, ihre Eltern, lernen und uns entwickeln, fördern wir in ihnen ein „Growth Mindset“ – die Überzeugung, dass Fähigkeiten und Wissen durch Anstrengung und Erfahrung entwickelt werden können.
Die Balance zwischen Wissen und Nichtwissen
Natürlich ist dies kein Plädoyer gegen kontinuierlichen Wissenserwerb. Im Gegenteil, Wissen ist eine wertvolle Ressource, die uns in vielen Situationen Orientierung und Sicherheit gibt. Doch Wissen allein reicht oft nicht aus. Es ist die Balance zwischen Wissen und Nichtwissen, die uns ermöglicht, flexibel und authentisch zu handeln. Diese Balance erlaubt es uns, das, was wir wissen, mit der Offenheit für das zu verbinden, was wir nicht wissen.
Im Coaching, in der Kommunikation und in der Erziehung – überall dort, wo wir mit Menschen in Kontakt treten, die ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse haben – erweist sich diese Balance als besonders wertvoll. Sie hilft uns, nicht nur das Offensichtliche zu sehen, sondern tiefer zu blicken, unter die Oberfläche zu schauen und das Einzigartige in jedem Menschen zu erkennen.
Schlussgedanken: Die Einladung, offen zu bleiben
Nichtwissen als Haltung ist keine Schwäche, sondern wird zu einer Quelle tiefer Weisheit und Kraft. Es lädt uns ein, offen zu bleiben, neugierig zu sein und die Kontrolle loszulassen. Diese Haltung verändert nicht nur die Art und Weise, wie wir mit anderen kommunizieren, sondern auch, wie wir unsere Kinder erziehen und wie wir uns selbst und die Welt um uns herum sehen.
In einer Welt, die nach schnellen Antworten und fertigen Lösungen sucht, möchte ich dich ermutigen, die Fragen zu feiern. Erlaube dir, nicht alles zu wissen, und öffne dich für die Überraschungen, die das Leben bereithält. Wenn wir mit einem wachen Anfängergeist durch die Welt gehen, entdecken wir immer wieder Neues – in uns selbst, in anderen und in der Welt um uns herum. Und erwerben auf diesem Weg ein Wissen, das auf der direkten, unmittelbaren Erfahrung beruht.
Ich lade dich herzlich ein, deine Gedanken zu diesem Thema in den Kommentaren zu teilen. Wie erlebst du das Nichtwissen in deinem Alltag, in deiner Kommunikation oder in der Erziehung deiner Kinder? Ich freue mich auf den Austausch mit dir!
2 Antworten zu „Die Weisheit des Nichtwissens“
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Liebe Pia
Was für ein wunderbarer Beitrag zu meiner Blogparade #NichtWissen!
Nichtwissen als «bewusste Entscheidung, Raum für das Unbekannte zu lassen, für das, was sich im Moment entfaltet, ohne es mit vorgefertigten Antworten oder Annahmen zu überlagern.» Da bin ich mit dir total auf derselben Wellenlänge, danke für diese Definition von Nichtwissen.«Den Prozess umarmen» ist mir auch gleich ins Auge gesprungen. Da finde ich auch, genau das macht die bewusste Haltung des Nichtwissens überhaupt erst möglich, weil eine bestimmte Art von Raum bereit sein muss für die Arbeit, die wir in der Therapie begleiten.
Auch im Alltag, in der Kommunikation, in der Erziehung – im Leben eben ist für mich die Haltung des Nichtwissens eine brückenbauende Kraft zum Gegenüber. So schön, wie du das echte Zuhören beschreibst, das daraus entsteht!
Danke, dass du die Frage zum Nichtwissen feierst. Ich feiere deinen Beitrag und bedanke mich für deine Weisheit. Ja! Nichtwissen ist keine Schwäche, sondern macht das Leben erst lebenswert.
Herzlich
SusanneP.S. Es ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, die KI danach zu fragen, was sie zum Thema #NichtWissen antworten würde (Was ja offensichtlich heutzutage Mode geworden ist). Mich interessieren nur die menschlichen, persönlich erfahrenen Antworten. Nicht gerade sehr offen, meine Haltung 😉
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Liebe Susanne,
herzlichen Dank für deinen ausführlichen und wertschätzenden Kommentar! Den Prozess umarmen – das ist gar nicht so leicht, wenn man mitten drin ist im Prozess. Doch indem wir unsere Haltung immer wieder bewusst entwickeln, wird es leichter. Von Prozess zu Prozess.
Sicherlich kennst du das Gedicht von Rainer Maria Rilke „Über die Geduld“:Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages in die Antworten hinein.Ich liebe es sehr.
Sehr herzlich
Pia
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